PHÄNOMENOLOGIE

Zu den Dingen selbst! 

»Phänomenologie bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen.« Zitat des Begründers der Phänomenologie Edmund Husserl.

Als Gegenreaktion auf den Positivismus kann man die Phänomenologie auffassen, die als Strömung und Methode Anfang des 20. Jahrhunderts durch Edmund Husserl aufkam und bis heute als fruchtbarer Ansatz gilt. Man könnte die Grundgedanken etwa so umreißen: Die Phänomenologie beschreibt Phänomene, also das, was sich zeigt. Phänomene lassen sich nicht reduzieren auf "eigentlich" zugrundeliegende materielle Vorgänge und Mechanismen. Die Farbe Rot, ihre Eigenschaften und Wirkungen kann nie ausreichend analysiert werden, wenn man die Wellenlänge und die physiologischen Prozesse bei der Wahrnehmung von Rot auflistet. Die materielle Kausalerklärung steht in der Gefahr, wesentliche Merkmale des zu Erklärenden "wegzuerklären", und unbestreitbare Erfahrungen zu Illusionen zu degradieren. Im Gegensatz dazu geht die Phänomenologie von einem multiplen Realitätsverständnis aus. Die erfahrbare Welt stellt sich abhängig von Beobachter, Kontext und Perspektive jeweils verschieden dar. Die physikalische oder chemische Betrachtung eines Phänomens sind nur zwei Betrachtungsebenen unter vielen, z.B. der ästhetischen, ethischen usw..

Es gibt keine "eigentliche" Betrachtung, welche die "eigentliche Wahrheit" liefert. Die Phänomenologie sucht nicht nach etwas "hinter den Dingen". Sie reduziert Phänomene auch nicht auf Bewusstseinszustände. Für sie ist ein Phänomen das Erscheinen von etwas für jemanden, wobei jede Erfahrung des Phänomens eine bestimmte Struktur hat, die es zu untersuchen gilt. Erfahrung mag das Fundament jeder Erkenntnis sein, es mag auch sein, dass Induktion eine fundamentale Rolle spielt, doch die Erfahrung lässt sich nicht auf zusammenhanglose einzelne sinnliche Eindrücke als ihre fundamentalen Bestandteile reduzieren, und damit auf Protokollsätze wie "Der Ball ist rund." oder "Die Pflanze ist grün." Denn dann eliminiert man das Subjekt, das in allen Erfahrungen in irgendeiner Weise enthalten ist. Erfahrung ist stets an ein konkretes Subjekt gebunden, in einen Sinnzusammenhang und eine Lebenswelt eingebettet, und mit einer Perspektive verbunden.

Das erkennende Subjekt und das zu erkennende Objekt sind in jeder Erfahrung miteinander verquickt. Es gibt keinen strengen Dualismus von Innen- und Außenwelt wie etwa bei Descartes. Unser Bewusstsein richtet sich in ihnen auf eine ganz bestimmte Art und Weise auf das, was es erlebt oder wahrnimmt. Diese Art und Weise nennt Husserl Intentionalität. Ganz unwillkürlich stellen die Menschen bei jeder Erfahrung Sinn her, d.h. Zusammenhänge. In Husserls Zeit sah man den Wissenschaftsbetrieb in zwei Teile geteilt: einerseits die Geisteswissenschaften, deren Ansatz nach Dilthey auf Sinn und Verstehen basierte und andererseits die Naturwissenschaften, die oft einen positivistischen oder materialistischen Ansatz hatten, der von der Existenz einer einzigen realen Welt ausging, die unabhängig vom erkennenden Subjekt in Form einzelner "physischer" Objekte in Raum und Zeit existiert. Aussagen über größere Sinnzusammenhänge für den Menschen werden vom Positivismus als metaphysische Aussagen gesehen, d.h. als unbeweisbar oder unlogisch. Husserl befürchtete, dass der Positivismus als allgemeine Haltung das gesamte Denken der Moderne in eine Sinn- und Kulturkrise stürzen könnte. Er meinte, die Eliminierung des Subjekts gehe einher mit einem „gleichgültigen Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind“ (Husserl 1977: 3 f.), also vom Menschen, seinen Zusammenhang mit der Umwelt und die Menschlichkeit. Schlimmer noch: „Der Positivismus enthauptet sozusagen die Philosophie“ (Husserl 1977: S.7).

Für Husserl liegen die Ursprünge der Wissenschaft in der Lebenswelt des Menschen. Er argumentiert so: Da alles, was beobachtet wird, immer nur in einer leibabhängigen Perspektivität erscheint, und nichts in der Wahrnehmung vollständig gegeben ist, muss der Mensch stets eine Reihe von geistigen Operationen ausführen. Das können wir an uns beobachten. Wir ordnen etwas, das wir wahrnehmen, durch einen geistigen Akt über eine gewisse Zeit als ein- und dasselbe Phänomen ein, wir identifizieren es unter Umständen und machen "automatisch" die Voraussage, dass und wie es in der Zukunft weiter existiert. Dies tun wir im Alltag ständig. Für Husserl ist Naturwissenschaft nur die Perfektionierung von Voraussagen auf Basis der Induktion. Die Subjektperspektive der Phänomenologie kann vielen Wissenschaftsgebieten Anregungen geben. Nutzbar ist sie auch als Beschreibungsmethode oder als Grundlage einer Ästhetik.

Analysiert man die subjektive Gegebenheitsweise eines Phänomens, dann werden auch sonst schwer fassbare Phänomene wie Atmosphären oder menschliche Beziehungen untersuchbar. Man beschreibt in der 1. Person Singular. Dabei sollte man erlernte wissenschaftliche Erklärungsmuster und Meinungen "einklammern" - zugunsten einer Beschreibung des direkten "naiven" Erlebens. Typische Fragen der Phänomenologie? In welchen Zusammenhängen kann ich das Phänomen entweder beobachten, erleben oder mir vorstellen? In welche Sinnzusammenhänge gehört das Phänomen in meiner Lebenswelt? Welche Eigenart hat es in allen diesen verschiedenen Zusammenhängen? Wie identifiziere ich es? Wie richte ich mich in den Erfahrungen und Vorstellungen jeweils auf das Phänomen - mit welchen Sinnen, Gedanken, Empfindungen, Erwartungen, Vorerfahrungen, Vergleichen? Welche Perspektive nehme ich jeweils aufgrund meiner Körperlichkeit zum Phänomen ein? Was ändert sich bei einer Veränderung der Perspektive oder Einstellung?

Hier die wichtigsten Phänomenologen:

Vorläufer: Franz Brentano (1838-1917)
Begründer: Edmund Husserl (1859-1938)
Max Scheler (1874-1928)
Eugen Fink (1905-1975)
Emmanuel Levinas (1905-1995)
beeinflusst durch Husserl: Martin Heidegger (1889-1976)
Jean-Paul Sartre (1905-1980)
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
Michel Henry (1922–2002)
Hermann Schmitz (1928-2021)
Gernot Böhme (1937-2022)
Bernhard Waldenfels (geb. 1934)

Hier eine sehr praktische Anwendung der Philosophie auf das Thema Gefühle:
https://youtu.be/s0augpBxMfI

Radiosendung über den Begründer Edmund Husserl:
https://www.youtube.com/watch?v=0qL3p4VuQsY

Eine Radiosendung zu Emmanuel Levinas (1905-1995):
https://audiothek.philo.at/podcasts/werkstattgespraeche/emmanuel-levinas-denker-der-alteritaet

Radiobeitrag mit Lara Huber über Maurice Merleau-Ponty:
https://www.youtube.com/watch?v=6VyEeyDNCoQ

Was ist Phänomenologie?:
www.philohof.com/philosophie/wasistphaenomenologie/was_ist_phaenomenologie1.htm

Radiofeature: Was ist Phänomenologie?
https://www.youtube.com/watch?v=6oBmXU_gc6Q

Allgemeine Bestimmung:
http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=8375&n=2&y=1&c=1

Podcast: Was ist Phänomenologie von Werner Eberwein:
https://www.werner-eberwein.de/was-ist-phaenomenologie/Podcast

Interview mit Hermann Schmitz:
https://www.dialogos-philosophie.de/viewtopic.php?f=65&t=448

Interview mit Gernot Böhme zum Thema Atmosphäre (Englisch/Polnisch):
https://www.youtube.com/watch?v=xh0E9c4u2cQ

Interview mit Bernhard Waldenfels zum Thema Leiblichkeit und Digitalität: https://www.youtube.com/watch?v=mrQZAQPfV_o

Bernhard Waldenfels im Gespräch mit Manfred Sommer:
https://www.youtube.com/watch?v=SiDI88S58J0

Vorlesungen zur Phänomenologie: https://audiothek.philo.at/categories/grundprobleme-phaenomenologie-2015-2/popular

Phänomenologische Texte: http://phaenomenologica.de

Phänomenologie des Schlafs: Klicke hier!


Englisch:

Understanding Phenomenologie: https://www.youtube.com/watch?v=d5geMLe5tbM
The muppets explain Phenomenologie: https://www.youtube.com/watch?v=cVGAxMo-kiw

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